
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
während meines Studiums der Kommunikationspsychologie beschäftigte ich mich, neben der Phänomenologie und dem symbolischen Interaktionismus u.a., intensiv mit dem sozialen Konstruktivismus.
Dieser postuliert, dass unsere Wirklichkeit nicht objektiv ist, sondern sozial konstruiert wird. Wissen, Bedeutungen und Wahrheiten existieren damit nicht einfach nur, sondern entstehen durch soziale Interaktionen, Sprache und kulturelle Kontexte.
Der soziale Konstruktivismus stellt eine metatheoretische Perspektive in den Sozialwissenschaften dar, die sich mit der Art und Weise beschäftigt, wie Wissen und soziale Realität durch soziale Prozesse und Interaktionen konstruiert werden. Diese Theorie betont, dass unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht objektiv und unabhängig von uns existiert, sondern durch gemeinschaftliche und kulturelle Praktiken geformt wird. Wissen und Wirklichkeit sind damit nicht objektiv gegeben, sondern sozial konstruiert.
Das bedeutet, dass wir Menschen die Welt auf Grundlage unserer individuellen Erfahrungen, sozialen Prägungen und kulturellen Hintergründe interpretieren. Wir erschaffen unsere individuelle Vorstellung von Realität dabei durch Kommunikation, soziale Normen und kulturelle Praktiken. Worte und Begriffe beeinflussen hierbei, wie wir die Welt verstehen. Medizinische Diagnosen wie beispielsweise ADHS, existieren nicht „an sich“, sondern basieren auf sozialen und wissenschaftlichen Vereinbarungen sowie (abweichenden) Normen.
Ebenfalls kann ein Händedruck unterschiedlich interpretiert werden: Ein schwacher Händedruck kann in einigen Kulturen als Unsicherheit gedeutet werden, während in manch anderen Kulturen ein sanfter Händedruck als höflich und respektvoll gewertet wird. Solche Bedeutungen sind damit nicht nur individuell ausgehandelt, sondern gesellschaftlich konstruiert.
Unterschiedliche Gruppen, Gesellschaften und Personen konstruieren damit unterschiedliche Versionen der Wirklichkeit. Folglich existieren mehrere intersubjektiv konstruierte parallele Wirklichkeiten.
“Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung” (Zitat von Paul Watzlawick).
“Die eine” Wirklichkeit existiert damit nicht.
Das Verhalten unserer Mitmenschen – deren Konstruktion und Vorstellung von der Wirklichkeit – kann von unseren Vorstellungen der Wirklichkeit abweichen und damit folglich auch zu Konflikten führen.
Dieses Wissen ist besonders im beruflichen Alltag von zentraler Bedeutung – vor allem im Umgang mit Konflikten und dessen Prävention.
Um das manchmal befremdliche oder umständliche Verhalten unserer Mitmenschen zu verstehen und erklärbar zu machen, kann ein Perspektivenwechsel hilfreich sein. Hierbei können die Axiome des Sozialkonstruktivismus helfen: „Nichts ist selbstverständlich“, alles ist „sozial konstruiert“, „alles hat bzw. ergibt einen Sinn“.
Sowohl für unser Privat- als auch Berufsleben bedeutet dies, dass Menschen mit unterschiedlichen Wahrnehmungen, Erwartungen und Kommunikationsstilen aufeinandertreffen und sich damit konfrontiert sehen.
Konflikte entstehen überwiegend nicht aus "objektiven" Problemen, sondern aus unterschiedlichen Interpretationen ein und derselben Situation – also, weil Menschen unterschiedliche Sichtweisen auf eine Situation haben – Sichtweisen, die wiederum auf unterschiedlichen sozialen Konstruktionen beruhen. Was für die eine Person „richtig“ oder „gerecht“ erscheint, kann für eine andere völlig anders aussehen. Wenn wir anerkennen, dass unsere Wahrheiten nicht absolut, sondern konstruiert sind, können wir Konflikte mit mehr Offenheit und Empathie begegnen.
Das Wissen über den sozialen Konstruktivismus hilft dabei, nicht nur den eigenen Standpunkt zu reflektieren, sondern auch die Perspektive anderer besser zu verstehen.
Der soziale Konstruktivismus hilft zudem dabei, Differenzen nicht als persönliche Angriffe zu werten, sondern als Ergebnis unterschiedlicher Konstruktionen von Wirklichkeit zu verstehen. Dies fördert eine dialogische Haltung, bei der nicht das Gewinnen, sondern das gemeinsame Verstehen im Vordergrund steht.
Gerade in der Konfliktlösung kann diese aus der Mediation stammende Haltung Türen öffnen: Denn wenn alle Beteiligten begreifen, dass ihre Wirklichkeiten verhandelbar sind, entsteht Raum für kreative und nachhaltige Lösungen.
Wer konstruktivistisch denkt, ist eher bereit, andere Sichtweisen als legitim anzuerkennen und bewusst den Dialog zu suchen.
Diese Haltung fördert Empathie, Offenheit und Reflexion – alles zentrale Faktoren für eine erfolgreiche Konfliktprävention oder Mediation.
Führungskräfte und Teammitglieder, die sich dieser Dynamiken bewusst sind, können frühzeitig Missverständnisse erkennen, kommunikative Brücken bauen und ein inklusives, respektvolles Arbeitsklima schaffen.
Das Verstehen und Akzeptieren der intersubjektiven parallelen Wirklichkeiten unserer Mitmenschen, stellt damit den ersten Schritt zu einem konfliktfreieren (Berufs-) Leben dar.
Insgesamt trägt der soziale Konstruktivismus dazu bei, Konflikte nicht nur zu lösen, sondern ihnen vorzubeugen – durch ein tieferes Verständnis für die Vielfalt menschlicher Wahrnehmung und die Bedeutung von Kommunikation.
Der soziale Konstruktivismus stellt damit ein wichtiges Instrument zur Deeskalation von Konflikten dar.
Denn wer versteht, dass Wahrheiten intersubjektiv konstruiert sind, schafft die Grundlage für respektvollen Dialog und konstruktive Verständigung.