Die Macht des Pygmalion-Effektes

Veröffentlicht am 26. April 2025 um 21:01

Liebe Leserinnen, liebe Leser, 

manchmal braucht es nicht viele Worte – ein Blick, eine Haltung oder eine unausgesprochene Erwartung genügt, um zwischenmenschliche Dynamiken zu beeinflussen. Genau hier wirkt der sogenannte Pygmalion-Effekt. Ursprünglich aus der Bildungsforschung bekannt, spielt dieser psychologische Mechanismus auch in Konfliktsituationen eine stille, aber mächtige Rolle.

Denn der Pygmalion-Effekt beschreibt das Phänomen, dass sich Menschen entsprechend der Erwartungen verhalten, die andere an sie richten – sei es bewusst oder unbewusst. Wer Großes von jemandem erwartet, stärkt dessen Selbstbild, Motivation und letztlich auch die Leistung. Wer hingegen mit Ablehnung, Skepsis oder Misstrauen betrachtet wird, läuft Gefahr, sich entsprechend negativ zu entwickeln.

Benannt wurde der Effekt nach Pygmalion, einer Figur aus der griechischen Mythologie, der sich in eine von ihm geschaffene Statue verliebte – so sehr, dass diese zum Leben erwachte. Die psychologische Botschaft: Unsere Erwartungen können Realität formen.

Entscheidend wird dies in Konfliktsituationen, in welchen wir dazu neigen, andere in Schubladen zu stecken:

  • „Er hört sowieso nicht zu.“
  • „Sie will nur stur ihren Willen durchsetzen.“
  • „Mit ihm kann man nicht reden.“

Solche inneren Haltungen prägen unser Verhalten, unseren Tonfall, unsere Körpersprache – und damit auch die Reaktion des Gegenübers. Der Konflikt verstärkt sich selbst. Der Pygmalion-Effekt zeigt: Wenn wir von einer Person erwarten, dass sie uneinsichtig, trotzig oder aggressiv ist, wird sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch so verhalten.
So auch umgekehrt: Wenn wir jemandem echtes Potenzial zur Kooperation zutrauen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Vertrauen eingelöst wird.

Eine selbsterfüllenden Prophezeiung.

Gerade in konfliktbeladenen Situationen wird oft unbewusst negativ antizipiert. Wer das erkennt, kann bewusst positive Erwartungen setzen – ein entscheidender Schritt zur Deeskalation. Denn Menschen verhalten sich oft so, wie sie gesehen werden. Wenn wir jemandem trotz Konflikt mit Respekt, Offenheit und Zutrauen begegnen, stärken wir sein positives Selbstbild – eine Voraussetzung für Veränderung.

Auch wer zudem in moderierender oder vermittelnder Rolle agiert, trägt eine besondere Verantwortung: Der Blick, mit dem wir Beteiligte betrachten, kann entscheidend beeinflussen, wie sie sich selbst in der Konfliktsituation erleben – als Täter*in, Opfer, oder als lösungsfähiger Mensch.

Der „magische Blick“ wirkt hier wie ein Spiegel mit Verstärkerfunktion.

Denn wenn Konfliktparteien spüren, dass ihnen zugetraut wird, gemeinsam Lösungen zu finden, entsteht eine neue Energie.

Vertrauen wirkt ansteckend – ebenso wie Misstrauen.

Es geht also nicht darum, Konfliktverhalten zu „überspielen“ oder künstlich zu beschönigen. Der Pygmalion-Effekt verlangt Echtheit, inneres Zutrauen und den Mut, Menschen in ihrem Entwicklungspotenzial zu sehen, auch wenn sie gerade im Widerstand oder Schmerz sind.
Gerade in schwierigen Gesprächen kann dieser Effekt den entscheidenden Unterschied machen. Egal ob zwischen Eskalation und Entspannung, zwischen Sackgasse oder Lösungsweg.
Konflikte leben nicht nur von dem, was gesagt wird, sondern auch von dem, was zwischen den Zeilen mitschwingt – unseren Blicken, Haltungen und Erwartungen. Der Pygmalion-Effekt erinnert uns daran, dass wir durch unsere innere Haltung die Realität anderer mitgestalten. Wer in Konflikten bewusst diesen „magischen Blick“ wählt – der Blick, der Ressourcen, Potenziale und Veränderungsmöglichkeiten sieht – öffnet Räume für Verständnis, Vertrauen und echte Veränderung. In jeder menschlichen Interaktion – besonders in der Mediation – spielt unsere innere Haltung gegenüber anderen damit eine entscheidende Rolle. Ob bewusst oder unbewusst: Wie wir jemanden sehen, beeinflusst maßgeblich, wie diese Person sich selbst und ihr Verhalten erlebt.

In der Mediation arbeiten wir Mediator*innen mit Menschen in emotional aufgeladenen, oft verfahrenen Situationen. Es ist leicht, nur das Verhalten zu sehen: Vorwürfe, Rückzug, Wut, Trotz. Doch der „magische Blick“ geht tiefer – er sieht das Menschliche hinter dem Verhalten.
Wenn Mediator*innen beispielsweise davon ausgehen, dass die Beteiligten zur Lösung fähig sind – auch wenn sie es selbst noch nicht glauben –, entsteht ein Raum für Entwicklung. Diese Haltung überträgt sich unbewusst auf die Parteien: Sie beginnen, sich selbst wieder als handlungsfähig zu erleben. Denn viele Konfliktparteien fühlen sich festgefahren oder ohnmächtig. Der Pygmalion-Effekt schenkt ihnen das Gefühl nicht als Problem – sondern als ein wichtiger Teil zur Lösung zu bestehen.

Wenn wir Mediator*innen überdies auf Kooperation statt auf Widerstand setzen, verändert sich auch unser sprachlicher Umgang. Wir hören anders zu, stellen andere Fragen – und setzen damit Impulse, die auch bei den Beteiligten die Perspektive verschieben.

Der Pygmalion-Effekt ist damit mehr als ein psychologischer Trick – er ist ein inneres Arbeitsprinzip. Wer als Mediator*in professionell arbeiten möchte, muss sich seiner*ihrer inneren Bilder bewusst sein:

  • Welche Erwartungen habe ich an diese Person?  
  • Traue ich ihr zu, konstruktiv zu sein?  
  • Sehe ich in ihr das Potenzial, zur Lösung beizutragen?

 

Der magische Blick des Pygmalion-Effekts stellt damit eine stille, aber mächtige Kraft in der Mediation dar.

Wer ihn versteht und lebt, verändert nicht nur Konfliktdynamiken – sondern auch die Menschen darin.

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